Kapitel 1

                                              Im Magen des Ungeheuers


Julia flieht.
Sie ist taumelnd aufgestanden und geradeaus losgelaufen. Aber da ist nur Wald, Dickicht, kein Weg. Sie hat sich umgedreht und ist über den Baumstamm gesprungen, auf dem sie so lange zit­ternd gesessen ist und nun rennt sie, flieht sie.
Wohin? Das ist völlig gleichgültig. Sie muss nur aufpassen, dass sie nicht wieder in die Nähe des Ungeheuers gerät, dem sie gera­de entkommen ist. Das hat sie gefressen. Es hat sie durch sein kleines Maul in seinen riesigen Bauch gesaugt. Wie sie entkom­men ist, weiß sie nicht mehr.
Sie stolpert über Äste und vertritt sich den Fuß in den tiefen Rin­nen, die schwere Waldfahrzeuge im letzten Winter in den Boden gefahren haben.
Der Wald stinkt. Wie lange ist sie in dem Ungeheuer gewesen? Fünf Minuten? Fünf Stunden? Lange genug, um durchtränkt zu werden von dem Gestank. Sie wird ihn nicht los. Sie hat das Ge­fühl, dass nun der ganze Wald danach riecht. Sie humpelt, bleibt stehen, würgt, aber ihr Magen ist schon leer. Das Mittagessen hat sie neben den von Holzfällerarbeiten übrig gebliebenem Baumstamm gespuckt. Mit schmerzendem Knöchel läuft sie weiter. Nur fort von diesen Viechern, mit denen sie fünf Minuten (oder fünf Stunden?) im Magen des Ungeheuers war. Aber die lassen sie nicht los. Die bleiben an ihr hängen wie der Gestank. Halb verfaulte Krallenfüße greifen nach ihren verschwitzten blonden Haaren und tote Augen schauen sie an. Zombies. Eines war wirklich tot, da ist sie sicher. Eingeklemmt zwischen den anderen lief es leblos im Magen des Ungeheuers herum.
Sie findet ihr Fahrrad im Schuppen neben dem alten verfallen­den Wohnhaus. Immerhin, das Rad ist noch an derselben Stelle, wo sie es vor ungefähr einer halben Stunde gelassen hat. Ja, vor un­gefähr einer halben Stunde – Julia gewinnt ihr Zeitgefühl zu­rück. Sie kann das Rad aus dem Schuppen schieben und sich auf den Lenker stützen. Es stinkt noch immer, aber sie ist ja nun auch wieder in der Nähe der Container mit den toten Hühner und die stinken nun mal. Das hat nichts mit ihr zu tun! Oder? Sie blickt zu dem neuen Stall hinüber. Das ist ein Hühnerstall und kein Ungeheuer. Eine moderne Mastanlage für so 40.000 Brat­hähnchen. Da war sie drin und jetzt ist sie nicht mehr drin. Und sie wird nie wieder hineingehen!
Sie steigt aufs Rad und fährt zurück ins Dorf. Langsam lässt sie sich die Straße hinunterrollen.
Sie landet in der unteren Dorfstraße am Zaun des letzten Hau­ses. Der ist kein Lattenzaun und kein Jägerzaun. Er besteht aus geschmiedeten Eisenstäben. In dem weiten Garten steht kein Haus, sondern eine Villa, verborgen hinter Bäumen, die schon alt waren, bevor hier eine Baugrube war. Im Muster des Tores glaubt sie Federn zu erkennen. Früher hat sie darin immer Blätter gesehen. Jetzt Federn? Überall Federn? Wie im Magen des Un­geheuers? Julia zuckt zurück. Sie möchte sich umdrehen und in die andere Richtung fliehen. Das Dumme ist nur: sie wohnt hier.

Auch Micha rennt. Aber er flieht nicht. Er muss Sarah einholen. Er hat seiner Mutter versprochen, Sarah vom Kükengehege fern­zuhalten und sie ist ihm wieder entwischt. Welcher 15jährige Junge passt schon gern auf ein kleines Mädchen auf? Jetzt muss er schnell sein.
„Sarah!“, ruft er, „Mensch, Sarah, häng doch nicht immer bei den Küken rum“
„Die sind so süß, Micha.“
„Ja, jetzt, aber nicht lange. Das werden Hühner. Dann sind die nicht mehr süß. Hühner sind doof.“
„Du bist doof, Micha.“
„Komm, wir haben doch auch drei Katzen.“
„Katzen gibt's in der Stadt auch.“
„Ja, und Katzen sind viel netter als Küken.“
„Ich will nicht!“
Micha blickt auf die Kleine hinunter. Sie tut ihm leid. Er kommt sich mal wieder völlig bescheuert vor. Warum hat er seiner Mut­ter versprochen, sich um Sarah zu kümmern? Weil es ihm leid tut? Immer macht er so bekloppte Sachen. Florian hätte das nicht getan.

Ungefähr zwei Kilometer weiter sitzt Florian im Garten seines Elternhauses. Er rennt nicht. Obwohl er von den Dreien die längsten Beine hat. Warum sollte er rennen? Niemals würden seine Eltern von ihm verlangen, auf ein kleines Mädchen aufzu­passen. Und Ungeheuer kennt er nur aus Büchern. Und tote Hühner in Containern kennt er überhaupt nicht. Wenn Florian rennt, hat er einen vernünftigen Grund. Dann will er einen Wett­lauf gewinnen.

Julia, Micha und Florian sind die einzigen aus der 9. Klasse des Gesamtschulzentrums, die in diesem kleinen Dorf wohnen. Sie gehen immer zusammen zum Schulbus und treffen an der Halte­stelle nur auf ein paar freche Sechstklässler. Die nennen die Drei: 'FatCat mit Black and Bubble Bieber'.
Zum Glück kann Julia darüber lachen. Mit Katzen lässt sie sich gern vergleichen und sie hält sich nicht für fett.
Auch die Spitznamen 'Black and Bubble Bieber' findet diese spitze, denn Florian und Micha bemühen sich beide vergeblich um eine echte Justin Bieber Frisur. Bei Florian stimmt die Form einigermaßen, aber die Farbe nicht, denn seine Haare sind dun­kel, fast schwarz. Aber bei Micha passt überhaupt nichts. Seine Haare sind braun und sehen aus, 'als ob in seinem Kopf einer Bubblegums blasen würde', so die Sechstklässler. Wenn Micha sich nicht schrecklich viel Gel in die Haar schmiert hat er Lo­cken und ist weit von der Frisur des Teenie-Stars entfernt. Julia ist aber die Einzige, die über 'FatCat mit Black and Bubble Bieber' lacht, Florian kann immerhin grinsen und Micha nicht einmal das.

Freitag, 1. Juni

„Micha!“
Das ist die Stimme seiner Mutter.
Oh, nein! Jetzt soll er wohl wieder auf Sarah aufpassen. Er hat die Nase voll vom Babysitting. Er sitzt am PC. Es sind Ferien und zum ersten Mal in dieser Woche ist er bei Facebook.
„Micha!“
Ich bin nicht da, denkt er. Ich bin bei …
Was? Was ist das?
Hi, Fans!, schreibt da einer. Ich bin wieder zu haben. Wünsch mir eine, bei der die Zickenalarmglocke ein paar Zentimeter hö­her hängt. Und ein bisschen weniger Speckbauch darf sie auch haben. Lukas
Lukas? Der Lukas? Mit dem Julia zusammen ist? Oder war? Lukas, Marathonläufer, Jahre älter ist und viel mehr …
„Micha! Hier ist Julia!“
Was????
„Sie kommt zu dir rauf!“
Das ist zu viel für Micha. Soll er nun zur Tür springen, um sie aufzumachen? Oder zuzuhalten? Und er muss wissen, ob das der Lukas … noch ein Blick auf den PC.
He, Lukas, liest er, du Kurzstreckenminimarathonläufer, ich liebe meinen Bauch und er gehört immer noch mir! Julia
Julia! Julias Name auf dem Bildschirm, Julia in der Tür. Sie ist nicht mehr mit Lukas zusammen, begreift Micha.
Und sie kommt in sein Zimmer!
Er kann gerade noch die Seite minimieren. Dann springt er auf und wirft den Stuhl um.
Da ist sie.
Wirklich? Ist das Julia? Julia ist strahlend und blond, immer ein wenig zu laut, vielleicht ein wenig zu dick, aber jedes Gramm Julia ist für Micha ein Beitrag zur Verbesserung der Welt. Und da steht Julia und sieht unglücklicher aus als die kleine Sarah, die so viel Schlimmes erlebt hat.
Julia setzt sich. Sie fragt nicht, sie setzt sich einfach auf sein Bett. Es gibt noch ein Sitzkissen, sonst nur den Stuhl vor Michas Schreibtisch. Der ist unbequem, aber da muss er nun bleiben. Er kann sich doch nicht zu Julia auf das Bett setzen! Auch nicht auf das Sitzkissen zu ihren Füßen – unmöglich!
Julia sagt: „Ich hab sie gesehen.“
„Wen?“, fragte Micha. „Was?“
„Unsere Haustiere. Unsere lieben 40.000 Haustiere. Können auch mehr sein.“
Micha weiß, was sie meint, aber er versteht nicht, wie sie die ge­sehen haben kann. Da geht man nicht hin.
„Vorgestern war eine Sendung im Fernsehen“, erklärt Julia, „über – äh – so liebe Haustiere. Das hab ich gesehen und da hab ich gedacht...“
Micha starrt sie an.
„Natürlich hab ich immer gewusst, womit mein Vater so viel Geld verdient“, fährt Julia fort, „aber ich hab da nie drüber nach­gedacht. Und als ich das im Fernsehen gesehen hab, fiel mir ein – du hast ja auch mal zugeschaut, hast du mir erzählt, du hast auch wissen wollen, was dein Vater macht...“
„Es war schrecklich!“
„Aber es musste sein. Oder?“
„Aber, hey, Julia, das ist doch etwas ganz anderes. Wenn ich zu­gucke, wie sie die Hühner schlachten oder ein Kalb, hey... ich mach das nie wieder, kannst du mir glauben! Aber da muss ich doch nicht denken: Was für'n scheiß Vater hab ich da! Was hast du gedacht, als du da drin warst?“
„Was für einen scheiß Vater habe ich da...“
Stimmt nicht so ganz. Das hat Julia erst später gedacht, nachdem sie das Mittagessen ausgespuckt hatte und fort war von Staub und Gestank. Das war


gestern am 31. Mai

Julia fuhr zu dem alten Bauernhof, auf dem ihr Vater aufgewach­sen war. Sie versteckte das Rad im Schuppen neben dem verfal­lenden Haus, in dem schon lange niemand mehr wohnte. Aus einem der Fenster des Hauses beobachtete sie die Umge­bung. Sie blickte auf die Giebelseiten der beiden Mastställe, aber sah sie fast nichts, feinster, pulvriger Staub lag auf den Scheiben. Zwar hatte ihn der Regen in der Nacht von den Fenstern gewa­schen, aber schon klebte neuer daran und malte die Schlieren und Rinnen der Regentropfen nach. Es sah aus wie Muster ge­duldiger Häkelarbeit, wie Spitzengardinen, nur schmutzig grau. Kaum sichtbar dahinter lag der alte Maststall, der nur eine um­gebaute Scheune war, und daneben das lange flache Gebäude mit dem Wellblechdach, ein moderner Maststall für 40.000 Brat­hähnchen.
Julia steig die knarrende Holztreppe hinauf. Im Obergeschoss war ein Fenster zerbrochen, alle sechs Schei­ben des Sprossen­fensters waren zersprungen, nur spitze, staubi­ge Zacken ragten aus dem rohen Holz, wie zertretenes Eis, wie zugefrorene Pfützen im Winter, und von den Fenstersprossen blätterte die längst nicht mehr weiße Farbe ab. Dahinein hatte eine Kreuz­spinne ihr großes Rad gesetzt. Hier konnte Julia hinaus schauen. Sie sah die beiden Ställe wie dicke Brocken im Netz der Spinne.
Sie wartete. Es war niemand zu sehen.
Die Wolken gaben die Sonne frei. Strahlend fiel die Nachmit­tagssonne auf das Metall der beiden Futtersilos zwischen den Ställen. Julia machte geblendet die Augen zu. Die Spinne lief unruhig über ihre Beute. Julia blinzelte, die Spinne verdeckte fast das große, zweiflügelige Tor des neues Stalles, riesig sperrte ihr helles Kreuz auf dem dunklen Rücken den Zugang zu dem Raum, in den Julia eindringen wollte.
Ich will gar nicht, dachte sie, hoffentlich sind die Tore zu.
Es war niemand zu sehen, sie ging wieder hinunter und hinaus über den kleinen Hof. Vorsichtig zog sie am Griff des Tores. Na­türlich war es zu. Ungefährdet konnte sie daran rütteln, dass der feine Staub ihr über die Hände rieselte. Sie lief an den Längssei­ten des Stalles entlang. Fenster gab es keine aber, in regelmäßi­gen Abständen Ventilatoren. Die bliesen feinsten Staub aus der Halle heraus. Von da also stammten die Spitzengardinen an den Fenstern. Sie fand eine kleine Seitentür, auch die war verschlos­sen. Langsam ging sie um beide Ställe herum. Bei der umgebau­ten Scheune stank es nur mäßig, am neuen Stall sehr, am schlimmsten jedoch bei den Containern. Die waren voller toter Hühner, alle schmutzig weiß. Sie stanken. Julia atmete flach und ging schnell weiter. An einem der beiden Silos war ein Anbau. Sie blickte durch ein Fenster, ein kleines Büro mit Computer. Von hier wurde offenbar alles gesteuert, Futterleitungen führten von den Silos zu den Ställen, ebenso Wasserleitungen. Gefüttert und getränkt wurden die Tiere also automatisch, aber irgendwer musste doch die toten in den Container werfen. Sie hörte Moto­rengeräusch und floh ins Wohnhaus.
Durch das Rad der Kreuzspinne am Fenster beobachtete sie einen Mann. Er stellte ein Moped ab, ging in das Büro, dann zu der Seitentür des alten Stalles. Julia konnte ihn nicht mehr se­hen. Sie wartete. Nach einer Viertelstunde kam er zurück. In bei­den Händen trug er tote Hühner. Er hielt sie an den Füßen. Sie waren noch ziemlich klein. Beim Container konnte sie sein Ge­sicht sehen, sie kannte ihn nicht.
Er ging in den anderen Stall. Sie sprang die Treppe des Wohn­hauses hinunter und schlich ihm nach. Sie öffnete die Tür einen Spalt und schlüpfte hinein.
Es war dunkel. Rötliche Lampen gaben nur wenig Licht.
Während ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten, begriff ihr Gehirn: Ich bin nicht mehr in derselben Welt.
Sie hatte das Gefühl, sie wäre gefressen worden von einem Un­geheuer. Die kleine Seitentür war das winzige Maul eines riesi­gen Monsters. Das hatte nur die Lippen geöffnet und sie ver­schlungen, zahnlos, ohne zu kauen.
Sie hatte kein Gefühl mehr für oben und unten. War der schmie­rige Schleim wirklich nur unter ihren Füßen? Ihre Nase wurde in feuchtwarmen Gestank gestoßen. Das waren keine Tiere, die da, Körper an Körper, den Boden bedeckten. So bewegen sich Hüh­ner nicht. Da kroch eins mit nach außen gedrehtem Bein, stieß die Krallen in den Dreck, stürzte, zog sich mit den Flügeln wei­ter, blieb liegen, 5-Cent-große Löcher in den Füßen. In schief gelegten zuckenden Köpfen waren kleine entzündete Löcher. Augen? Eines zog an ihr vorbei mit hängendem Kopf, der hin und her pendelte.
Das ist richtig tot, erkannte Julia.
Eingeklemmt in der dichten Hühnermasse konnte es nicht umfal­len. So wurde es an Julia vorbei geschoben.
Die leben hier nicht, dachte sie. Die sind schon gefressen. Von dem Ungeheuer. Die lösen sich auf in der Magensäure.
Auch Julia fühlte, wie sie sich auflöste. Ihre Augen tränten, über ihr Gesicht lief staubvermischter Schweiß, stechender Schmerz zerplatzte in ihrem Kopf, der Hustenreiz tobte in der Lunge. Sie fand die Tür im Rücken.
Sie rannte durch die blendende Sonne in den Wald. Da erbrach sie das Mittagessen, Magenschleim, Galle. Lange saß sie zit­ternd auf einem gefällten Baumstamm, suchte nach einem Ge­danken, der sie in ihr altes, früheres Leben zurückführte und fand ihn: Was für einen scheiß Vater habe ich da?


Freitag, 1. Juni

„Dann bin ich weggerannt“, erzählt sie Micha, „irgendwie bin ich zuhause gelandet, komisch, da wollte ich gar nicht hin.“
Micha sagt nichts. Er kann ihr nicht sagen, was er gerade denkt, es passt nicht.
Du bist auch schön, wenn du traurig bist, denkt er.
Sie schweigen eine Weile. Dann fliegt Julias Kopf plötzlich hoch und sie hält ihn wieder so, wie er sie kennt.
„Ich hab ein Flugblatt gemacht“, sagt sie.
„Was?“ Micha kapiert nichts.
„Ich hab’s Florian gesagt“, erzählt sie, „aber – irgendwie will ich es ihm nicht zeigen. Ich zeig es nur dir.“

Oh, es gibt Hähnchen.
Hm!
Hm?
Stell mal die Uhr auf den Kopf.
Und wenn sie lange genug rückwärts gelaufen ist,
guck dir an, was das mal war,
was da auf deinem Teller liegt.
Halt dir die Ohren zu, dann kannst du besser sehen,
wie das zuckt.
Mach die Augen zu, dann kannst du besser hören,
wie das schreit.
Halt dir die Ohren zu und schließ die Augen,
dann kannst du es riechen.
Würg     kotz     spuck

Das liest Micha, und da hat er ein Problem.
Wer soll das verteilen, denkt er. Warum ist sie gekommen? Weil ich das verteilen soll?
Er will keine Flugblätter verteilen. Er macht so etwas nicht gern. Und das hier geht schon gar nicht. Sein Vater und Julias Vater sind zusammen zur Schule gegangen, sind einmal Freunde ge­wesen. Beide haben einen kleinen Bauernhof geerbt. Und nun ist Michas Vater Bauer, Julias Vater Unternehmer. Niemand weiß genau, was Julias Vater alles macht, nur dass er gut verdient, das erkennt man an seinem Haus und seinen Autos. Wenn Micha jetzt Flugblätter gegen Julias Vater verteilt, sieht das nach Neid und Rache aus. Er will das nicht. Aber eigentlich ist das ja kein rich­tiges Flugblatt. Vielleicht ist das nur ein Gedicht.
„Hast du viel gedruckt?“, fragt er.
„Erst mal hundert. Ich muss Papier kaufen.“
Es ist also kein Gedicht. Es soll ein Flugblatt sein. Micha fährt mit dem Finger über die Schrift.
„Hast du einen Laserdrucker?“, fragt er.
Julia schüttelt den Kopf. „Ich nicht, aber er.“
„Du bist verrückt! Du hast auf seinem Drucker …? Wenn er dich erwischt hätte!“
„Er ist doch nicht da. Er war Pfingsten mal kurz zu Hause. Ist schon wieder auf Geschäftsreise.“
„Du hast das aber nicht auf seinem Computer gemacht?“
„Nein, ich hab's nur auf seinem Drucker kopiert. Was regst du dich auf. Wenn er mich erwischt, ist das mein Problem.“
Ja, so ist das. Micha regt sich auf, und Julia hat keine Angst vor ihren Problemen. Er kann nichts dazu sagen, er fragt nicht ein­mal 'Was willst du jetzt damit machen?'. Zu groß ist seine Angst, dass sie sagt 'Hilfst du mit es verteilen?' Sie sitzen noch eine Weile wortlos in dem kleinen Zimmer, dann geht sie. Micha spürt, er hat sie enttäuscht.
Sie wird das Flugblatt wohl doch Florian zeigen.
Als sie fort ist, geht es Micha richtig schlecht. Er ist wütend auf sich selbst. Und er ist wütend auf seine Mutter. Denn kaum ist Julia fort, da wird er schon wieder losgeschickt, um Sarah vom Kükengehege wegzulocken.
„Du bist ja schon wieder hier!“, fährt er die Kleine an. „Mensch, Sarah, ich hab dir gesagt, du sollst hier wegbleiben.“
„Ich - ich helfe“, stottert Sarah. „Ich arbeite.“
Sie hält die große Schüssel mit den Küchenabfällen fest in bei­den Armen. Es ist eine alte Plastikschüssel, weiß und ziemlich zerkratzt. Achim hat sie ihr gegeben. Sie soll einfach 'Achim' zu ihm sagen. Ohne 'Onkel'. Achim ist toll!
„Das ist aber kein Kükenfutter, was du da hast.“
Micha ist überhaupt nicht toll. Micha ist doof. Und gemein.
„Das kriegen die größeren Hühner. Gib mir das.“
Sarah drückt den Rücken gegen den Pfosten vom Kükengehege.
„Doch kriegen das die Küken. Hat Achim gesagt. Und ich darf's ihnen geben.“
„Hat Achim gesagt! Mensch, mein Vater! Der spinnt doch. Ka­piert der das nicht. Mich hat er auch immer die Küken füttern lassen. Idiot!“
Micha ist wirklich doof. Sarah, wenn sie einen Papa hätte, würde ihn nie Idiot nennen. Sie hat aber keinen Papa. Hat nie einen ge­habt und bald vielleicht auch keine Mama mehr.
Micha wird ganz schlecht, wenn er so auf Sarah hinunter guckt. Vor zehn Jahren, Micha war ungefähr so alt wie Sarah jetzt, da hat er die Schüssel im Arm gehabt - dieselbe - und er hat die Kü­ken gefüttert, und...
„Hör mal, Sarah, hör mir einmal zu und glaub mir mal – deine Mama ist schwer verletzt...“
„Weiß ich.“
„Es wird Monate dauern, bis sie wieder gesund ist...“
„Weiß ich.“
„So lange musst du bei uns bleiben.“
„Weiß ich doch alles.“
„In ein paar Monaten sind das aber keine Küken mehr, auch kei­ne Hühner, zumindest nicht so, wie du dir das denkst. Die sind dann tot. Alle. Wir schlachten die. Das sind Masthühner. So! Jetzt gib mir die Schüssel und hau ab.“
Sarah hat den Pfosten im Rücken, da kann sie sich anlehnen, und die Schale hat sie vor sich, daran hält sie sich fest. Sie schaut Micha gerade und lang in die Augen. Er soll weggehen. Sie will nicht heulen, solange er da ist. Sie weiß ziemlich genau, wie lan­ge sie es aushalten kann, ohne zu weinen. In den letzten Tagen hat sie viel Gelegenheit gehabt, das zu üben. Bis 20 kann sie zählen, langsam bis 20 zählen, dann kommen die Tränen. Weiter kann sie sowieso noch nicht zählen, ist auch nicht nötig, bis 20, dann muss sie weinen, da kann sie nichts machen.
Micha steht da und lässt die Arme hängen. Er merkt mal wieder, wie entsetzlich lang die sind. Und wenn er so steht und nicht weiß, was er machen soll, sind sie noch länger, zumindest kommt ihm das so vor. Seine Mutter sagt immer, das sei nicht schlimm, Jungen hätten mit fünfzehn manchmal so lange Arme. Aber Florians Arme haben genau die richtige Länge, und er wird damit Flugblätter verteilen, das weiß Micha ganz genau. Beson­ders geschickt war das wohl nicht, was er Sarah gerade gesagt hat. Die Mutter hat das anders gemeint mit dem 'Sarah von den Küken weglocken'. Jetzt ist es zu spät. Jetzt weiß sie es. Wie die ihn anguckt. Das hat er nicht gekonnt damals. Er hat immer gleich losgeheult.
Sechzehn - siebzehn- Sarah zählt ganz langsam.
Vielleicht ist die härter als er. Vielleicht hält die das aus. Mäd­chen sind manchmal härter. Julia kann auch mehr wegstecken als er. Soll sie doch die Küken füttern....
Neunzehn.
Micha dreht sich um und geht.
Zwanzig.
Eigentlich wollte Sarah nicht mehr weinen. Irgendwann muss man doch damit aufhören, ganz einfach, weil irgendwann einmal die Tränen zuende sein müssten.
Micha ist gemein, so gemein.
Genügt es denn nicht, dass ihre Mama stirbt?
Müssen die Küken auch alle totgemacht werden?
Kann sein, die Mama stirbt nicht. Vielleicht wacht sie ja wieder auf. Sarah fand den Unfall gar nicht so schlimm. Aber sie hat ja hinten gesessen im Auto. Alle hoffen, dass ihre Mama wieder aufwacht. Für die Küken ist nichts zu hoffen. Die werden umge­bracht. Alle. Hat Micha gesagt. Micha ist so gemein.
Die Küken stehen vor dem Tor und piepsen. Sie picken auf den Boden und nach ihren Nachbarküken, sie hüpfen und zappeln, ein flauschiger Teppich aus flaumigen Federn, goldgelb mit dun­kelbraunen Punkten. Erst mochte Sarah die gelben lieber. So hat­te sie sich Küken vorgestellt, so waren sie auf den Ostereiern. Aber jetzt findet sie die braunen schöner, die sind dunkel mit hellen bräunlichen Streifen.
58 sind es, hat Achim gesagt, aber so weit kann Sarah ja noch nicht zählen.
Achim hat ihr gezeigt, wie die Tür aufgeht. Aber aufpassen muss sie, dass die Küken nicht rausrennen. Die Tür ist aus Draht. Das ganze Kükengehege ist aus Maschendraht. Sarah öff­net die Tür nur einen Spalt und wirft ein paar Salatblätter hinein. Da laufen sie hin. Nun sieht Sarah auch ihre Füße, ihre riesigen, gelben Füße, und wieder wundert sie sich, dass die so groß sind. Jetzt kann sie hineingehen in das Gehege. Achim hat das schon richtig eingeteilt, dass er sie die Küken füttern lässt. Niemand außer ihr kann unter der Drahtdecke stehen. Hanna muss nur den Kopf einziehen, sie ist nicht größer als Sarahs Mama. Sie sind ja auch Schwestern. Micha ist auch nicht so sehr groß. Aber Achim muss hier wohl kriechen, lang wie der ist.
Sarah wirft Salatblätter, Gurkenreste, Möhren in alle Richtun­gen, damit alle etwas bekommen.
Nun könnte sie gehen. Aber sie wartet noch und schaut ihnen zu. Haben alle genügend Futter? Ja, sie picken alle.
Alle – hat Micha gesagt.
Ach, der ist gemein. Sie muss nicht glauben, was er sagt.
Auf dem Weg zurück zum Haus geht sie an der Wiese entlang, die Achim seit Tagen mähen will.
Sie zählt die Blumen. Nach zwanzig muss sie wieder von vorne anfangen. Sie muss lernen weiter als bis zwanzig zu zählen. Dann muss sie nicht mehr so schnell weinen. Die Großen wei­nen auch nicht so viel. Sie können ja auch weiter zählen.


Samstag, 2. Juni

„Bullshit“, sagt Florian.
So etwas hat Julia befürchtet. Darum wollte sie ihm das Flug­blatt nicht zeigen.
„Fakten müssen her“, findet Florian, „knallharte Facts, die muss man den Leuten um die Ohren hauen, dass ihnen die Hühnerbei­ne im Hals stecken bleiben.“
Und Florian weiß auch, wie man an Fakten kommt. Zuerst muss man die rechtliche Grundlage klären. Wenn man irgend etwas er­reichen will, muss man immer zuerst abklären, ob man einen Prozess führen kann und wie die Chancen stehen, dass man ihn gewinnt.
Florians Eltern sind Juristen.
In Florians Zimmer ist alles ordentlich und aufgeräumt. Es hat einen Zugang zu dem Balkon, der fast rund um das Haus reicht. Neben der Balkontür hängen Vorhänge. Die sind dunkelgrün und so schwer, dass sie sich nicht bewegen, obwohl die Tür offen steht. Nichts bringt sie aus ihrer schweren Ruhe. Sie sind, wo sie hingehören. Alles in diesem Zimmer ist da, wo es hingehört. Nur Micha hat das Gefühl, dass er nicht hierher gehört.
Julia sitzt auf dem großen Drehstuhl am Schreibtisch. Sie hat die Beine nach vorn gestreckt und bewegt den Stuhl hin und her. Ihre Arme hängen herunter, ruhig und bewegungslos. Wie die Vorhänge. Micha macht das wütend. Weil Julia so gut hierher passt und er überhaupt nicht. Sobald er die Arme hängen lässt, zucken seine Fingerspitzen. Julia kann unbesorgt die Füße so weit von sich strecken. Egal wie abgelatscht ihre Schuhe sind, es sind immer noch Edelschuhe. Micha tritt lieber mit dem einen Fuß auf den anderen, dann steht er wenigstens nur noch mit ei­nem dieser Billigschuhe auf dem Parkett. Solche Schuhe gehö­ren nicht in dieses Haus. Micha starrt auf Julias ruhig hängende Fingerspitzen. Wer gibt das Recht da zu sitzen und die Arme so ruhig hängen zu lassen wie die Vorhänge?
Dein Vater ist Bauer wie meiner, denkt Micha. Beide haben einen mittelgroßen Hof geerbt. Kann man gerade von leben. Und meiner ackert sich ab, und deiner steigt in das große Fleischge­schäft ein.
Wütend sein auf Julia tut weh. Ihr T-Shirt ist hoch gerutscht. Zwischen dem roten Saum des Shirts und dem hellengrauen Bund ihrer Bermudas kann er einen Streifen von ihrem Bauch sehen. Er möchte seine Hand darauf legen, möchte den Abstand zwischen Rot und Grau vergrößern, nach oben und nach unten vergrößern, bis … er weiß jetzt genau, dass sie nicht mehr mit Lukas zusammen ist, er könnte also – er kann nicht! Und nicht weil Florian dabei ist. Er könnte das auch nicht, wenn er mit ihr allein wäre. Er kann das nicht! Er ist nicht mehr wütend auf Julia, aber sie tut ihm immer noch weh, und das Ein­zige, was den Schmerz lindern könnte, wäre seine Hand auf der kleinen Rundung von Julias Bauch, über die Lukas bei Facebook abläs­tert und die Micha hier nicht dauernd anstarren kann. Er reißt seinem Blick von der Lücke zwischen T-Shirt und Bermudas und starrt auf die grünen Vorhänge. Und er fühlt einen stechen­den Schmerz in sei­nem eigenen Bauch, als hätte er Julias Körper von sich wegge­rissen und bei ihm ist eine Wunde entstanden und bei ihr nicht.
Florian fährt den PC hoch. Er legt sich Stift und Notizblock be­reit. Und er weiß, wie er Tatsachen aus Julia herauskriegt. Wenn Florian fragt, zeigt sich, dass Julia in dem Maststall doch mehr gesehen hat als das Mageninnere eines Ungeheuers.
„Wie dicht stehen sie, Julia, ich muss es genau wissen.“
„Eins neben dem anderen. Wenn eins irgendwohin will, muss es über die anderen kriechen. Und eins war tot, hundert pro. Das konnte nicht mal umfallen.“
„Also rumlaufen können die nicht?“
„Die können sowieso nicht laufen, die sind kaputt.“
„Hätten sie Platz zum Laufen?“
„Nein.“
„Dann ist das verboten, was dein Vater da macht.“
Mit ein paar Klicks hat er das Tierschutzgesetz auf dem Bild­schirm. Julia und Micha können mitlesen:

'Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Lei­den oder Schäden zugefügt werden.'

„Und es ist doch artgemäß, dass sie sich bewegen“, sagt er, „Micha, was machen eure Hühner?“
„Rumrennen, scharren. Picken.“
„Also! Aber wir brauchen Beweise. Kann man fotografieren da drin?“
„Unmöglich!“ Julia schüttelt den Kopf. „Viel zu dunkel. Da musst du nur husten und würgen in dem Gestank.“
„Wonach riecht es?“
„Na ja, Scheiße.“
„Genauer, Julia. Versuch dich zu erinnern. Ammoniak?“
„Ja, wahrscheinlich Ammoniak.“
„Gut. Also drin kann man keine Fotos machen. Dann eben drau­ßen. Irgendwann müssen sie die Hühner ja mal rausholen. Und zwar bald. Wenn die so eng stehen, können sie kaum noch grö­ßer und dicker werden. Also kommen sie bald zum Schlachthof. Wir verstecken meine Videokamera auf dem Hof und bewachen das Gelände. Wenn die Hühner dann in Laster verladen werden, fil­men wir.“
„Morgens ist bald wieder Schule“,wendet Julia ein.
„Leider. Aber vielleicht haben wir Glück, und sie machen es noch in den Ferien. Oder am Nachmittag.“
„Glück...“, murmelt Julia, „...Glück...“
„Hey, was hast du?“, fragt Florian. „Okay, ich weiß, er ist dein Vater. Aber du hast gesagt, du willst ...“
„Ich weiß nicht“, sagt Julia, „ich – ich will was für die Tiere tun, aber ich will doch nicht meinen Vater...“
Ihre Arme haben nicht mehr die gelassene Vorhangruhe. Doch bevor ihre Finger anfangen zu zittern, ballt sie die Hände zu Fäusten.


Ebenfalls 2. Juni

Achim lässt Sarah nicht nur die Küken füttern. Er bringt ihr auch bei, über die 20 hinweg zu zählen. Es ist ganz einfach, nicht ein­mal neue Zahlen muss sie lernen, sie kommt jetzt bis 30. Und Achim nimmt sie mit in den Keller. Da steht ein großer gelber Kasten mit einem kleinen roten Lämpchen, das leuchtet. Oben auf dem Kasten ist ein Fenster. Dadurch kann man hineinschau­en. Dann sieht man Eier, ganz normale Hühnereier, weiße und braune.
„Die sind jetzt eine Woche da drin“, sagt Achim, „in vierzehn Tagen, wenn du dann da reinschaust, siehst du keine Eier mehr. Da ist alles voller Küken, gelbe und braune.“
Neben dem Brutkasten ist noch ein kleiner Holzkasten. Darin ist eine Lampe. Oben hat er ein Loch, oval, etwas kleiner als ein Ei, die Ränder sind gepolstert durch einen dicken, weichen Gummi.
Achim öffnet den Brutkasten, nimmt ein Ei heraus -
„Darf man das?“, ruft Sarah.
„Ja, doch, das darf man. Wenn eine Henne Eier ausbrütet, muss sie das Nest auch jeden Tag verlassen. Sie muss ja fressen.“
Schade, dass Achim sonst so wenig redet. Er hat eine weiche, warme Stimme. Sarah möchte ihm immer zuhören.
„Und nun, Sarah, zeige ich dir ein Wunder.“
Er knipst die Lampe in dem Holzkasten an, legt das Ei vorsichtig auf das gepolsterte Loch, beugt sich darüber, schaut angestrengt auf das Ei. Er sieht sehr gespannt aus. Dann lächelt er, tritt bei­seite und schiebt Sarah vor den Kasten.
„Ein Wunder?“, fragt Sarah.
Sie beugt sich über das Ei. Sie kann hineinschauen, sieht den Dotter und darin ein feines Geflecht von dünnen roten Linien. Spinnwebfein, ja, so ähnlich wie ein Spinnennetz, nur etwas durcheinander.
Sarah ist auf eine seltsame Weise aufgeregt.
„Das sind die Adern“, sagt Achim. „Es lebt. Das ist der erste dünne Faden Leben. In zwei Wochen ist es ein Küken.“
Sarah hat das Gefühl ganz dicht, ganz nah an etwas dran zu sein, das sie lange gesucht hat. Wenn sie vorsichtig an diesem ersten dünnen Faden Leben ziehen könnte, dann müsste sie ihn der Mama bringen. Ihre Mama schläft im Krankenhaus und kann nicht aufwachen. Wenn sie der Mama diesen ersten dünnen Fa­den Leben in die Hand gibt, dann würde alles wieder gut.
Sie durchleuchten ein Ei nach dem anderen. In den meisten fin­den sie das Adergeflecht. In einigen sieht man nichts.
Unbefruchtet, sagt Achim und legt es in einen Korb.
Diese Eier werden gekocht. Die größeren Hühner bekommen sie zum Fressen.
In manchen Eiern aber ist anstelle des feinen Geflechtes ein röt­lich dunkler, dumpf zerlaufener Ring.
Tot, sagt Achim, abgestorben. Sollte ein Küken werden. Wird aber nichts.
Diese Eier legt er in einen anderen Korb. Die wirft er fort.
Dann zählen sie, wie viele im Brutkasten bleiben. Bis dreißig zählt Sarah mit. Achim kommt bis 62.
„In zwei Wochen, Sarah. 62 Küken. Komm nun. Lass uns nach oben gehen.“
Sarah will tragen helfen und greift sehr rasch nach dem Korb mit den unbefruchteten Eiern. Achim soll den anderen nehmen, in dem die mit dem dunklen Ring sind. Die fasst sie nicht an. Achim dreht sich um und zieht den Stecker der Lampe aus der Steckdose. Sarah geht voraus. Da ist eine Tür. Die hat sie vorhin nicht gesehen. Oder war sie offen? Ist sie hinter ihnen lautlos zu­gefallen? Sie drückt die Klinke herunter. Die Tür ist verschlos­sen. Sie rüttelt daran.
„Nein!“
Sarah zuckt zusammen. Das ist doch nicht Achims Stimme. Wer schreit da schrill und laut in ihrem Rücken?
„Hier geht’s rauf, Sarah.“
Das ist wieder Achims Stimme.
„Und von der Tür bleibst du weg, ja! Immer!“
Ist das wirklich Achims Stimme?
Sarah nimmt ihre Hand von der Türklinke.
Es ist eine Märchentür, denkt sie. Es ist die Tür, die niemals ei­ner aufmachen darf, sonst …
Aber sie weiß, dass in allen Märchen immer irgendeiner genau diese Tür öffnet.
Den Rest des Abends läuft sie ziellos auf dem Hof herum, strei­chelt die Katzen, schaut bei den Küken vorbei und bei den Milchkühen auf der Weide. Schließlich geht sie freiwillig früh ins Bett.
Aber sie kann nicht einschlafen. Immer hat sie das zarte Aderge­flecht vor Augen. Ein Wunder? Wirklich ein Wunder? Sie spürt noch in ihren Fingerspitzen, wie kostbar jedes Ei, in dem sie die feinen Adern entdeckten, in ihren Hän­den wurde.
Sie knuddelt ihr Kopfkissen zu einem großen Ei zusammen, das sie nimmt behutsam in die Arme. Sacht legt sie den Kopf dar­auf.
Kann man nicht so eine Lampe etwas größer bauen und damit in Mamas Kopf hineinschauen? Bestimmt haben sie so etwas in dem Krankenhaus. Was werden sie sehen in Mamas Kopf? Das zarte Adergeflecht oder den dumpf zerlaufenen dunklen Ring?
Vor ein paar Wochen hat jemand Sarah ein komisches kleines Bildchen geschenkt, kaum größer als eine Briefmarke. Auf das Papier war eine geriffelte Plastikscheibe geklebt, und wenn man das Bildchen langsam zwischen zwei Fingern hin und her wa­ckelte, dann sah man immer abwechselnd zwei verschiedene Bilder. Auf beiden war ein Comic-Kater, der eine Maus jagte. Auf dem einen entwischte sie so gerade seinen Pfoten, auf dem anderen hatte er sie gepackt.
Und genau wie bei den Bildchen wackelt es jetzt vor Sarahs Au­gen. Sie versucht, in Mamas Kopf hineinzuschauen, aber was sie sieht, kippt immer hin und her von dem Adergeflecht zu dem dumpfen Ring. Von dem ersten, feinen, dünnen Faden Leben zu dem dunkel zerlaufenen Tod. Sie will eines der Bilder halten, ei­nes fassen. Nicht einfach eins von beiden, sondern das zarte, kla­re, aber es kippt immer wieder in das andere. Als sie merkt, dass sie weinen wird, fängt sie an zu zählen. Bis 30 muss sie es ge­schafft haben, das eine festzuhalten. Sie zählt langsam, rhyth­misch, und so wackeln die Bildchen auch langsamer und passen sich den Zahlen an: 11 Leben, 12 Tod, 13 Leben, 14 Tod... Schon als sie die 20 erreicht, weiß sie: auf 30 wird der Tod fal­len. Sie zählt langsamer, noch langsamer, doch ihr wird immer klarer, wie erbarmungslos das Gesetz der Zahlen ist. Sie will aufhören und kann es nicht. Die Bilder vor ihren Augen kippen weiter hin und her, und jedes fordert seine Zahl, bis sie ihre letz­te erreicht hat. Hoffnungslos zählt sie auf ein Unglück zu. Wenn nicht ein Wunder geschieht. Achim glaubt an Wunder.
Dreißig.
Vor Sarahs Augen erstarrt der dunkle, dumpf zerlaufene Ring. Er geht nicht weg. Sarah sagt noch einmal: Dreißig.
Nein.
Achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig ...
Und da geschieht das Wunder.
Plötzlich weiß Sarah, wie man weiter zählt. Es ist ja so einfach. Sie muss nun gar nichts Neues mehr dazulernen. Es gibt noch eine Zahl und dann wieder eine. Niemand kann sie zwingen, bei dem dumpfen Ring aufzuhören. Sie zählt weiter, weiter, und sie wird nie nie wieder weinen müssen.
Irgendwann zwischen 60 und 70 schläft sie ein.



                                                                      Kükenkugelbahn

Sonntag, 3. Juni

Sie verstecken die Kamera im ersten Stock des Wohnhauses bei dem Fenster mit den zerbrochenen Scheiben. Die Kreuzspinne ist nicht mehr da. Florian entfernt die Reste ihres Netzes. Von hier ist der Blick auf den neuen Maststall am besten.
Sie gehen hinaus. Florian schreitet die lange Halle ab, Julia und Micha trotten hinter ihm her, während er den Abstand zwischen den Ventilatoren misst und versucht die toten Hühner im Contai­ner zu zählen. Das gelingt nicht. Er schnuppert und bestätigt die Diagnose: Ammoniak. Der Anbau am Silo ist verschlossen.
„Ich kann da rein“, sagt Julia. „Bei unseren Schlüsseln ist einer, der hat einen Anhänger 'Zentrale', das muss er sein.“
Sie schauen durch das Fenster hinein. Von hier werden die Fut­tereingaben gesteuert. An der Wand hängt ein Schlüssel. Für die Seitentüren? Niemand schlägt vor, dass Julia einen Zugang ver­schafft. Sie gehen weiter. Julia läuft neben Florian her, Micha läuft neben Julia her, sie tun nichts, und es geschieht auch nichts. Sie bleiben, bis es dämmert. Sie packen die Kamera in Plastikfo­lie, um sie vor dem Staub zu schützen und lassen sie dort.
Auch an den folgenden Tagen passiert nichts. Julia verkracht sich mit Florian, denn sie findet bei Facebook:

Hi!
hat jemand von euch infos über masthähnchen? ich meine, wie viel platz muss man denen geben und so?
Florian

Sie schickt ihm eine wütende Message:

             bleib bei facebook raus! und
    wenn dann schreib nur für micha und
  mich, das ist mein vater, ich
        bestimme, wer da mitmacht!


Florian antwortet sofort:
                                        wir brauchen infos, sonst wissen
                                wir nicht, was das beweismate­rial wert ist.

      was für beweismaterial?

                                                  das wir mit der kamera machen.

  hol die kamera wieder ab


  wir müssen vorbereitet sein

                                                                          worauf

  wir müssen das dokumentieren, sonst haben wir
         kein beweisma­terial

                                                                              wofür?

    ich würd gern mal so eine anklage formulieren,
    auf der basis vom tierschutzgesetz, wie in echt.


Für Florian ist das Spiel. Masthühner verteidigen statt Moorhün­her schießen.
Julia schaut bei Facebook nach, ob jemand geantwortet hat. Nur Lukas.

Hi, florian,
bist du hinter den hühnern von julias vater her? Keine ahnung, wie viel platz die haben, hängt wohl davon ab, wie viele julia gerade gegrillt hat, in julias bauch ist übelste massentierhal­tung, kein platz mehr, auch nicht für dich …
Lukas

Julia zuckt die Achseln und klickt die Seite weg. Lukas kann ihr nicht mehr weh tun.
In den nächsten Tagen redet sie wenig mit Florian. Sie fahren re­gelmäßig zu den Ställen, beobachten aber nicht mehr als einen Laster, der den Container mit den toten Hühnern ausleert.
Die müssen doch endlich da raus, denkt Julia. Wenn die noch dicker werden, platzt der Stall. Warum platzt der Stall nicht?
Montag 11. Juni

Am ersten Schultag radelt Julia früh zu den Ställen. Und da ist einer geplatzt. Das Hallentor steht offen, es stinkt noch mehr. Auf dem Hof zwischen Scheune und Halle sind Lasterspuren, der Stall ist leer.
Nachts, sie machen es nachts.
Julia wendet ihr Rad, will zurückfahren, zum Schulbus. Aber dann ruft sie Micha an.
„Nachts!“, schreit sie ins Smartphone. „Sie machen das nachts.“
„Es … es tut mir leid“, hört sie Micha stammeln.
„Was soll ich tun?“, ruft sie.
„Ich … ich weiß es nicht...“
Micha ist wirklich mal wieder nicht gerade hilfreich. Warum ruft sie nicht Florian an? Sie machen es nachts! Das ist doch eine Tatsache. Das ist doch was für Florian. Sie will ihn nicht anru­fen. Sie will hier weg. Aber sie bleibt.
Ich guck das an, denkt sie. Jetzt! Wenn wir aus der Schule kom­men, haben die vielleicht schon saubergemacht.
Sie sieht zwei Reihen Futtertröge längs durch die gesamte Halle, runde, rote Tröge in regelmäßigen Abständen. Jetzt sind sie hochgezogen, ebenso vier Reihen Tränken. Julia schaut den Bo­den an, ungern, aber es muss sein. Da ist kein Halm Einstreu zu sehen, das ist purer Hühnerkot, feucht schmierig unter den Trän­ken, sonst eine feste harte Kruste. Sie filmt mit dem Handy und löscht den Film. Vielleicht ist es besser, wenn nur ihre Augen das gesehen haben.
Der Schulbus ist weg. Sie muss mit dem Rad zur Schule fahren.
Warum? Warum machen sie das nachts?

Am Nachmittag beobachten sie von dem alten Stall aus, wie die Halle gereinigt wird. Die Kruste Hühnerkot bricht wie Packeis, nur nicht so sauber, Staubwolken steigen auf. Florian lässt die Kamera in der Folie. Fester und feuchter Mist wird auf Laster geladen. Sie bleiben nicht lange. Der Gestank ist unerträglich. Auch Florian spricht von Scheiße.


Dienstag 12. Juni

Sarah will gar keinen Ausflug machen, zumindest nicht mit Micha, es sei denn, er fährt mit ihr ins Krankenhaus zu ihrer Mama, aber die Mama schläft immer noch. Also soll sie mit Micha in die Stadt fahren und Achims Bruder besuchen. Den kennt sie doch gar nicht.
Und Sarah ist wieder misstrauisch geworden. So ganz scheint das nicht zu stimmen mit den Wundern. Wenn sie sich sehr be­müht, kann sie sehr weit zählen. Aber nicht endlos. Nach 99 weiß sie nicht weiter. Zehnzig? Einundzehnzig? Diese Zahlen hat sie noch nie gehört. Sie ist sicher, die gibt es nicht. Also kann man doch nicht endlos zählen. Zumindest kleine Kinder können es nicht. Kinder werden also weinen müssen.
Immerhin, eines ist gut an diesem Ausflug: Wenn sie mit Micha wegfährt, muss sie keine Angst um ihre Küken haben. Er kann nicht, während sie fort ist, ihre Küken umbringen, weil er selber nicht da ist.
Micha ist froh, dass er mit Sarah wegfahren kann. Ihm sind die Tage, an denen die Hühner geschlachtet werden ein Gräuel.
Ungefähr 60 Hühner sind nun gut drei Monate alt. Es sind die in dem Gehege hinter der Kuhweide. Die hat Sarah nie gefüttert, sie weiß gar nicht, dass da noch Hühner sind. Wenn so viele ge­schlachtet werden, bestellt Achim einen Metzger. Nur selten, auf Anfrage, tötet er eins selbst. Sie haben den ganzen Nachmittag mit dem Rupfen und Herrichten der Tiere zu tun, die nun alle Masthähnchen heißen, auch die Hennen. Die meisten werden so­fort verkauft.
Als Micha und Sarah am Abend zurückkommen, ist nichts mehr von alldem zu sehen.
„Morgen“, sagt Achim zu Sarah, „morgen richten wir ein neues Gehege für deine Küken. Sie sind zu groß geworden für das kleine, sie brauchen mehr Platz.“
Sarah freut sich.


Mittwoch, 13. Juni

Julias Vater ist noch immer auf Geschäftsreise. Da kann sie in seinem Büro und in seinem Computer herumschnüffeln. Ihre Mut­ter ist irgendwo im Haus und macht etwas Lautloses. Julia sieht ihrer Mutter nicht ähnlich. Die ist sehr schlank und still. Sie wird von dieser Schnüffeltour nichts merken. Wo Julia ist, weiß man nämlich normalerweise immer. Da ist irgendein Krach. Die Tür schlägt zu, der CD-Player ist zu laut, ein Stuhl fällt um, eine Tasse vom Tisch oder sie telefoniert oder lacht. Wenn sie lautlos im Zimmer ihres Vaters ist, wird die Mutter denken, sie sei gar nicht da.
Ein paar Augenblicke steht sie ratlos in dem großen Raum. Hier ist er anwesend, auch wenn er auf Geschäftsreise ist. Sie spürt seine Nähe, seinen Blick. Sie sieht ihn lächeln. Er hat ein Grüb­chen, wenn er lächelt, nur eins, rechts. Als Kind hat sie immer ihren Finger dahinein gepiekst. Und dann hat er gelacht. Sie hat geglaubt, diese kleine Kuhle in seinem Gesicht sei dazu da, um das Lachen anzustellen.
Lange kann sie hier nicht bleiben. Lange hält sie das nicht aus.
Sie druckt wahllos Blätter. Sie weiß nicht, was sie sucht. Viel­leicht können Micha oder Florian etwas damit anfangen. Sie ruft Micha an.

„Morgen“, sagt Achim. Er stellt einen Stuhl neben den Brutkas­ten und legt ein Kissen darauf. „Da kannst du morgen knien und zuschauen, aber du darfst den Kasten nicht mehr aufmachen.“
Drei Eier sortiert er noch aus, abgestorben, die anderen leben.
Achim kann es ihr beweisen. Er nimmt ein Ei aus dem Brutkas­ten und gibt es ihr. Da steht sie nun, das Ei rund, glatt und warm in ihrer Hand.
„Nicht drücken“, sagt Achim, „die Schale ist nicht mehr so fest wie bei einem frischen Ei. Sie wird brüchig in diesen drei Wo­chen. Das muss auch so sein. Dann hat das Küken es leichter. Es soll die Schale ja morgen aufbrechen. Außerdem atmet es schon. Durch die Schale geht Luft.“
Sarah schaut auf das Ei in ihrer Hand.
„Halt es mal ans Ohr“, fordert Achim sie auf.
Wie soll sie das machen? Das Ei zum Ohr? Das Ohr zum Ei bringen?
Achim nickt ihr zu.
„Ja. Tu es.“
Ohr und Ei treffen sich auf halbem Weg.
Und sie hört ein leises, feines, zartes Piepsen.
Sarah erschrickt.
Was hat Achim ihr da in die Hand gegeben? Etwas, das man gar nicht anfassen kann: Den ersten, feinen Ton, den Leben macht.
Sie formt eine Schale mit beiden Händen, darin liegt das Ei, si­cher und geschützt. Sie schaut es an, schaut Achim an und sie zittert ein wenig, aber nur mit den Lippen, das Ei in ihren Hän­den liegt sicher und gut geschützt. Sechs Jahre ist sie alt, und so viel hat sie schon vom Leben gesehen: Vor ungefähr drei Wo­chen, als das fremde Auto in das ihrer Mutter fuhr, hat sie gese­hen, wie Leben aufhören kann, so schnell und so laut. Vor zwei Wochen, als Achim ihr die angebrüteten Eier zeigte, hat sie gese­hen, wie Leben anfängt – und nun kann sie es hören! Den ersten feinen zarten Ton.
Ein Wunder. Das muss sie zu ihrer Mama ins Krankenhaus brin­gen. Da wird sie den Ärzten erzählen, wie der Anfang vom Le­ben aussieht und wie sich das anhört, und sie werden es der Mama geben. Das kann doch nicht so schwer sein. Da brauchen die doch wirklich kein Wunder zu machen. Das Wunder ist ja schon längst geschehen.
Achim nimmt ihr das Ei aus der Hand und legt es zurück in den Brutkasten.
„Morgen“, sagt er, „wenn wir Glück haben 59 Küken. Ein paar werden es vielleicht nicht schaffen. Das ist fast immer so. Da musst du nicht traurig sein. Die meisten schaffen es. Morgen.“

Julia legt die Blätter auf Florians Schreibtisch.
Ja – er kann etwas damit anfangen.
„Ist doch klar. Jetzt wissen wir, dass morgen neue Hühner kom­men und wir wissen, wann sie abgeholt werden. Nur, sie werden es wieder nachts tun, ohne Scheinwerfer können wir nicht fil­men, Scheinwerfer haben wir nicht, außerdem würden sie uns dann sehen.
Aber warum geht der Zeitplan von hinten nach vorn?“

17. 7.                   Schlachthof
16. 7. nachts        ausstallen
16. 7. morgen      Futterzufuhr abstellen
14. 6.                    einstallen
12. 6.                    Halle reinigen, desinfizieren
24. 5.                    Auftrag an Brüterei, 40.000 Eier in Bruträume

Das erste Datum im Leben dieser Tiere ist ihr Todestag.
„Ist das bei euch auch so?“, fragt Florian. „Bestellt dein Vater den Schlachter, bevor er die Eier in den Brutkasten tut?“
„Nein, die können ja mal eine Woche älter werden. Hängt immer auch vom Wetter ab, wie die sich entwickeln. Und vom Futter. Die fressen ja Küchenabfälle und was nicht zum Markt geht.“
„Sie lassen sie gar nicht leben“, murmelt Julia, „die sind von Anfang an gefressen. Genauso sah das aus, als ich da drin war.“
Micha wundert sich über etwas anderes.
„Zwischen Einstallen und Ausstallen sind da nicht mal ganz fünf Wochen. So schnell kann man doch keine Hühner mästen. Unse­re brauchen 12 bis 14 Wochen.“
„Sind die dann genauso schwer?“
„Bisschen schwerer als so ein Supermarkt-Huhn, aber nicht viel. Was gibt er ihnen, dass sie so schnell wachsen?“
„Ich frag ihn, wenn er kommt.“
„Bloß nicht. Julia, wenn du ihn fragst, sperrt er sein Arbeitszim­mer ab. Dann kriegen wir keine Infos mehr. Und wir brauchen Beweise.“
„Beweise! Beweise!“, schreit Julia und die beiden Jungen schau­en sie verblüfft an. „Wofür brauchst du Beweise?“
Micha weicht ihrem Blick aus, Florian bleibt ganz cool.
„Ich mach nichts damit, wenn du nicht willst“, sagt er, „ich mei­ne, keine Anzeige. Müssten ja auch meine Eltern machen. Aber man kann doch mal ein bisschen was ausprobieren. Nur so.“
Er gibt ein paar Wörter in den PC: Hühnermast, Mastfutter, Hormone...
„Vielleicht sind das Hormone“, murmelt er. „In Peking bei der Olympiade sind die Sportler gewarnt worden. Sie sollten kein Fleisch in normalen Restaurants essen, vor allen kein Huhn, sonst kommen sie nicht sauber durch die Dopingkontrolle.“
Florian ist Leistungssportler, Leichtathlet, er kennt sich aus. Und im Internet forschen kann er auch.
„Mafia“, sagt er, „Hormonmafia? Was ist das?“

Berliner Morgenpost, 2. Juni 2008
Es war der frühe Abend des 20. Februar 1995, als der Tierarzt Karel van Noppen einen fingierten Anruf erhielt. Er sollte zu einem Bauernhof kommen. Irgendein Notfall, so schien es. Van Noppen verließ sein Haus in dem kleinen Ort Wechelderzande nahe der niederländischen Grenze. Der Mörder wartete schon. Viermal schoss der Auftragskil­ler, traf den 42jährigen dreimal, zuletzt in den Kopf. Der Tierarzt starb, weil er unbestechlich war. Als Fahnder des belgischen Instituts für Veterinärprüfung hatte er erfolg­reich gegen kriminelle Viehzüchter und Schlacht­häuser er­mittelt. Er hatte aufgedeckt, dass eine weit verzweigte Ma­fia mit Wachstumshormonen handelte und dass Mäster ihre Tiere systematisch aufpumpten. …
„Die Fleisch-Mafia ist heute genauso stark wie früher“, sagt Flor van Noppen. Er ist der Bruder der ermordeten Tierarztes. Das belastete Fleisch schadet insbesondere Kindern, schwange­ren Frauen und älteren Menschen...

Alle drei starren auf den Bildschrim. Florian versteht: Hier wird mehr geschossen als Moorhünher. Das Suchen nach Beweisen ist kein Spiel mehr.


Donnerstag, 14. Juni

Sarah ist nicht zur Klinik gegangen. Erstens hat sie den Sonnen­aufgang verschlafen, und zweitens muss sie zuschauen, wie die Küken ausschlüpfen.
Es ist anstrengend, immer so auf dem Stuhl zu knien und auf das Sichtfenster im Brutkasten zu starren, vor allen, wenn da nichts geschieht.
Das Ei in der Mitte des Sichtfensters hat doch einen Riss. War der schon da? Oder ist er eben erst entstanden? Sie darf den Kas­ten nicht öffnen, das Ei nicht drehen. Sie kann also nicht heraus­finden, was auf der unteren Seite geschieht. Vielleicht ist die Schale da schon aufgebrochen? Es kann lange dauern, bis das Küken heraus ist, hat Achim gesagt.
„Sarah! Sarah!“
Das ist Micha, der Kükenmörder. Den will sie jetzt nicht. Der soll nur wegbleiben. Offenbar sucht er sie am Kükengehege. So was Dummes. Das ist doch leer.
„Sarah! Sarah!“
Die Stimme entfernt sich.
Micha ist nicht nur gemein. Er ist auch dumm.
Dieser Riss war doch vorhin noch nicht in dem Ei. Bestimmt.
„Sarah! Sarah!“
Die Stimme kommt näher. Jetzt ist er im Gemüsegarten, aber er wird sie nicht finden. Er ist zu dumm.
Das Küken arbeitet in dem Ei. Sarah beugt sich weit über den Kasten, damit sie die andere Seite sehen kann. Da ist eine deutli­che Zick-Zack-Linie, in der Schale. Das alles ist furchtbar an­strengend für das Küken. Hat Achim gesagt. Sarah stemmt die Knie gegen den Stuhl und drückt die Hände an die Lehne, so fest sie kann. Aber das hilft dem Küken ja nicht.
„Sarah! Sarah!“
Er ist im Haus, geht nach oben in ihr Zimmer.
Kann sie nicht irgend etwas tun, das dem Küken wirklich hilft? Mit der Mama hat sie immer Zaubersprüche gemacht, zum Bei­spiel beim Kuchenbacken:
     Kuchen, Kuchen, lauf!
     Geh auf!
     Bald quillst du aus der Form.
     Enorm!
Das hat immer geklappt. Alle Kuchen, die sie mit der Mama ge­backen hat, sind aus der Form gequollen und an den Rändern verbrannt.
     Küken, Küken, lauf
     Geh auf!
     Bald quillst du aus dem Ei
     Enorm!
Sarah ist zufrieden mit der Wirkung ihres Zauberspruchs. Die Zick-Zack-Linie geht jetzt bis nach oben.
Und sie weiß nicht, ahnt nicht, wie viele Küken auf ihr Zauber­wort die stumpfe Rundung des Eies absprengen und sich heraus­strampeln aus ihrer engen Hülle.

Auch 300 km weiter nördlich ist Schlupftag. Und da liegt „es“, Hühnchen oder Hähnchen, das wird niemals wichtig werden in seinem Leben. Aber Glück hat „es“, denn „es“ ist zeitig ge­nug geschlüpft. Das muss man nämlich, die weißen Trans­portkisten stehen schon bereit in der Verladehalle. Gleich morgen früh werden die Fließbänder angestellt und es beginnt für 40.000 Küken die wilde Achterbahnfahrt ins Leben. Was dann noch im Ei ist, bleibt zurück in den Bruträumen und kommt in den Container. Unbefruchtete, Abgestorbene, Zu-Spät-Schlüp­fende, das Fließ­band schaut sich nicht um nach denen, die den Sprung ins Leben verpasst haben. Da ist es gut, wenn man zeitig heraus ist aus sei­nem Ei. „Es“ gehört zu den Glücklichen, die im Brutraum schlüp­fen und langsam in der Wärme trocknen können, nicht zu den Späten, die erst im Abfall sich mühen, strecken, stemmen. Die strampeln sich heraus in den fauligen Dunst aufgeplatzter, ange­brüteter Eier in ein kurzes, sehr kurz­es klebriges, dunkles Leben - Ersticken - Sterben...

„Sarah! Sarah!“
Michas Stimme kommt näher.
Die stumpfe Rundung des Eies löst sich. Der Kopf schaut her­aus. Erschöpft bleibt das Küken liegen, Sarah sieht seine Kehle und wie es heftig atmet.
„Sarah!“
Achim, bitte, sag ihm doch, dass er abhauen soll.
Das Küken strampelt sich frei. Und da liegt es, dunkel, knochig, so klein der Körper, so groß die Füße und ringt nach Luft.
Es stirbt.
Natürlich. Weil der Hühnermörder kommt. Er ist schon auf der Kellertreppe. Es hat so gekämpft um sein Leben, und nun gibt es auf. Weil es sinnlos ist, wenn der Kükenmörder kommt.
„Sarah! Endlich Sarah! Du, Sarah, deine Mutter ist aus dem Koma aufgewacht.“
Sarah weint. Sie weiß nicht, was Koma ist, aber sie muss sofort anfangen zu weinen. Ohne vorher zu zählen. Es ist kein Weinen, das man mit Zählen aufhalten könnte. Sie schaut Micha an und lässt die Tränen laufen. Lange. Micha sagt nichts, wartet und strahlt.
„Es wird noch lange dauern, bis sie wieder gesund ist, hat der Arzt gesagt, aber sie wird nicht sterben.“
Sarah nickt, dreht sich um, rutscht auf den Stuhl, das Kissen fällt herunter.
„He, Sarah, hast du verstanden? Sag doch was.“
Sie nickt. Ihr fällt nichts ein. Ihr Kopf ist leer. Nein, nicht leer. Etwas wirbelt darin, dreht sich im Kreis. Flauschige Küken tanzen mit Zahlen.
„Micha, weißt du, was nach 99 kommt?“, fragt sie.
Die ist verrückt, denkt Micha, übergeschnappt, wahrscheinlich weil sie so lange Angst gehabt hat um ihre Mut­ter.
„Nach 99, Micha, was kommt danach? Weißt du’s?“
„Ähh, hundert“, sagt er.
„Hundert. Einfach hundert?“
„Ja.“
„Und dann?“
„101.“
„101. Und dann 102?“
„Ja.“
„103, 104 immer so weiter?“
„Ja, immer so weiter.“
Das ist ja so einfach. Sarah kann es kaum glauben.
„Sarah, schau mal, da ist ein Küken geschlüpft.“
Das Küken! Sie hat es vergessen. Es ist nicht gestorben. Es ist heller und größer geworden, man kann zuschauen, wie es immer heller und größer wird, weich, flauschig, gelb...
Sarah kniet auf dem Stuhl und singt:
„105, 106, 107 ...“


Donnerstag, 14. Juni

39965; 39966; 39967 ...
So weit zählt niemand. Auf 40.000 lautet der Auftrag, und unge­fähr 40.000 werden geliefert. Es wird immer eine beträchtliche Anzahl mehr in die Bruträume eingelegt. Man muss mit Verlus­ten rechnen. Einige überleben den Transport nicht und etliche schlüpfen erst im Müll,

im 'Muser' oder 'Homogenisator', großer Quirl, verwandelt Unbrauchbares (zu spät Geschlüpfte und bei der Lege­hennenproduktion auch alle männlichen Küken) in Basis­material für Hundefutterdosen mit der Aufschrift 'Huhn und Reis'

Für alle die, die rechtzeitig geschlüpft sind, beginnt nun Fahrt ins Leben. Der Laster ist vorgefahren, die Transportkisten stehen be­reit. Da wird den Küken der Boden unter den großen Füßen weg­gezogen, sie fallen. Aber „es“ ist ja eines von den Glücklichen, „es“ fällt weich auf eine dicke Schicht aus gelbem Flaum. Das Fließband geht ab, und die ganze Welt ist ein Karussell, eine Ach­terbahn. In einem scharfen Bogen nach rechts wird „es“, das Glückliche, nicht gegen die Seitenwände geworfen, sondern an eine flauschige Federwand. „Es“ verletzt sich nicht, tut sich nicht einmal weh. Sie werden auf ein anderes Fließband gespuckt, eine Etage tiefer, noch einmal und noch einmal, jedesmal hat „es“ Glück und fällt auf weichen gelben Flaum. Langsa­mer geht es dann, denn mit dem nächs­ten Sturz endet die Ach­terbahn. Ein kurzes Rohr in der Verlade­halle speit sie in die Trans­portkisten. Die schieben flinke Arbei­ter rasch und regelmäßig unter den mächtigen Hintern dieses riesigen Goldesels, der so 40.000 güldene Dukaten ausschei­det. Ein Märchentraum wird wahr.
Und „es“ fällt auf einen guten Platz, nicht ganz nach unten oder mittendrin, da kriegt man kaum Luft. Am Rand hockt „es“ und kann den Schnabel hinaus strecken, ziemlich weit oben, aber nicht ganz oben. Wenn die Deckel zugeschoben werden, klem­men sie so manchen Fuß ein oder reißen ihn ab oder einen Flügel oder einen Kopf.
Sechs Stunden dauert die Fahrt mit dem Laster.

Immer noch 14. Juni, am Abend

Julia, Florian und Micha warten im alten Wohnhaus auf die An­kunft der 40.000 Küken. Das große Stalltor ist offen. Die roten Futtertröge und die Tränken sind noch hochgezogen, an deren Stelle ist da nun eine Reihe Wärmestrahler dicht über dem Bo­den. Der Stall ist frisch eingestreut, der Gestank kommt aus dem anderen Stall. Eine breite Papierbahn ist längs durch den Stall gelegt. Darauf ist Futter verteilt. Der Mitarbeiter stellt Tränke­schalen auf. Florian zählt sie.
„Warum?“, fragt Julia.
Das weiß Florian auch nicht. Er sammelt hartnäckig Daten und Fakten, aber er kann nicht mehr sagen, warum.
Da unterbricht ihn Motorengeräusch, der Laster kommt.

Auch Sarah versucht zu zählen, doch das ist schwer. Die Küken sind jetzt in einem hohen Plastikring und wuseln durcheinander unter der Wärmelampe.
Sind es wirklich 59? Sind alle geschlüpft? Hat Achim nicht ei­nes, das dabei gestorben ist, heimlich entfernt?

Julia und Micha schauen zu, wie die Küken aus den Transport­kisten in die Halle auf die Papierbahn gekippt werden. Florian notiert die Nummer des Lasters. Sonst hat er hier nichts aufzu­schreiben. Telefon, E-Mail der Brüterei, Ort und Postleitzahl sind nicht angegeben, auch keine Website. Julias Vater sehen sie nicht. Die Küken finden bald die Wärmestrahler, der Arbeiter sammelt die toten (Transportverluste) in einen Plastikeimer, Flo­rian kann nicht mitzählen -

- Sarah auch nicht. 58; 59; 60 - das kann nicht sein. Es waren nur 59 Eier -

39978; 39979 – niemand zählt das zigtausendstimmige Piepsen im Maststall -
39980; 39981 – niemand zählt die zigtausend güldenen Feder­bällchen -
39982; 39983 – wenn Sarah einmal so weit zählen kann, wird sie wohl wieder weinen müssen.

Julia, Micha und Florian bleiben bis das große Stalltor geschlos­sen ist. Sie wissen, es wird im Leben dieser Küken nur einmal geöffnet werden, in 33 Tagen, in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli. Dann werden wieder Laster kommen und sie abholen.
„Okay“, sagt Florian, „Bis zum 17. Juli also – der Countdown läuft.“
Micha starrt als Einziger nicht auf das Stalltor, er denkt an die anderen goldenen Bällchen, die Flauschkügelchen, die Sarah über ihre Hände laufen lässt. Der Countdown läuft auch für sie. Er endet nicht am 17. Juli, doch auch für sie beginnt das Leben damit, dass es anfängt aufzuhören.
Und Julia denkt: Wo ist eigentlich mein Vater? Jetzt ist hier mal was zu tun und er ist nicht da. Womit verdient er das ganze Geld. Er will ja ein neues Auto kaufen. Hier lässt er andere arbeiten. Was macht er?
Der Laster fährt ab und mit dem Knattern seines Mopeds ent­fernt sich auch der einzige Arbeiter, der hier geholfen hat. Die Drei ziehen ihre Fahrräder aus dem Schuppen, und da Florian vorausfährt, landen sie bei ihm.
Dort fährt er seinen PC hoch. Das ist eine Reflexbewegung. So­bald er sein Zimmer betritt, tippt sein Finger auf den Schalter.
„Wie alt werden Hühner?“, fragt er. „Ich meine richti­ge Hühner. Nicht Hühnerbrustproduzenten oder Eierlegemaschi­nen.“
Er schaut Micha an.
„Ich weiß nicht“, sagt der. „Henny ist jetzt zwölf.“
„Henny?“ Julia zuckt zusammen. „Ne, das ist nicht dieselbe Henny! Ihr nennt immer eine Henny?“
Micha kriegt ein komisches Gefühl im Bauch. Sie erinnert sich! Sie denkt jetzt dasselbe wie er! Sie fühlt dasselbe wie er! Vor fast zehn Jahren hat er mit Julia zusammen Henny gestreichelt. Die war damals schon ein prachtvolles ausgewachsenes Huhn mit leuchtend rotbraunen Federn, sie hat auch immer braune Eier gelegt.
„Doch, dieselbe Henny“, sagt er leise, seine Stimme klingt etwas heiser, „unsere beste Legehenne, na ja, jetzt nicht mehr, aber meine Mutter will keine Henny-Suppe kochen.“
Julia steht dicht neben ihm. Florian hat sich an den PC gesetzt. Er hat nichts mit Henny zu tun. Er wohnte damals noch nicht in diesem Dorf. Julia bewegt die Schultern ein wenig. Dadurch wa­ckeln ihre Arme und ihre linke Hand berührt Michas rechte. Zu­fall? Nein! So wie sie ihn anschaut, muss er verstehen: das soll eine Erinnerung sein. Henny ließ sich streicheln wie eine Katze, wie ein Hund. Gibt es etwas Weicheres als Hühnerfedern, Hen­nenfedern, Hennyfedern? Im rotbraunen Flausch krabbelten zwei Kinderhände. Die gehörten nicht einem Kind, sondern zwei Kindern. Sie mischten sich mit Flaumfedern und Michas Hand hielt die andere fest. Damals konnte er das. Da war alles leichter.
„Wunderhuhn oder was?“, sagt Florian. „Was hat dein Vater dem gegeben, dass es so alt wird?“
Eine viertel Minute später bestätigt Wikipedia: Hühner werden 15 – 20 Jahre alt.
„Wie eine Katze“, murmelt Julia, „älter als ein Hund. Wenn wir Hunde essen würden – warum tun wir das eigentlich nicht? Weil wir dann Welpen essen würden? Und unsere Küken werden mit knapp fünf Wochen geschlachtet.“
'...unsere Küken...' - was hat Julia da gesagt? Von diesem Augen­blick sind die Goldbällchen im neuen Stall für alle drei 'unsere Küken'. Julia, Micha und Florian übernehmen die Patenschaft für 40 000 Küken.
„In diesen fünf Wochen wird was passieren“, Florians Stimme klingt fast ein wenig feierlich. „Julia, du musst mitmachen. Auch wenn das dein Vater ist. In diesen 33 Tagen machen wir was.“
Mit diesen Worten ändert er die Stimmung in dem Zimmer. Es ist jetzt wie aufgeladen, es zittert eine Spannung darin. Julia denkt: Was hat er vor? Und Micha fühlt sich völlig zerrissen. Er will keine 40.000 Küken. Er will nicht ein einziges, auch keines von denen, die um Sarahs Finger herumwuseln. Er will ein Huhn. Ein großes kräftiges Huhn mit rotbraunen Federn und zwei Händen darin.
Florian klickt im Internet herum. Er hat eine Seite über das Le­ben der 'Nutztiere' gefunden . Sein superschneller Rechner flippt entsetzlichste Fotos über den Bildschirm, Und dann stol­pert sein rechter Zeigefinger über die linke Maustaste mitten hinein in einen Film von der Kükenachterbahnfahrt.
Sie kichern. Alle drei fangen sie sofort an, nervös zu kichern. Es ist auch wirklich zu komisch, wie die niedlichen goldgelben Kü­kenbällchen auf den Transportbändern herumpurzeln. Das muss ein Animationsfilm sein. 'Ice Age' auf der Achterbahn. 'Der Kö­nig der Tiere' beim Oktoberfest. Zigtausend neu verföhnte Ra­punzelperrücken. Es kann nicht wahr sein.
„Eine Kükenkugelbahn“, schreit Florian. „Hey, ich weiß hab's! Wir machen Geld wie dein Vater. Wir gründen eine Spielzeugfir­ma. Das neue Bauernhofset für Kitakids. Holzkühe und -schafe sind out! Das Bauernhof-Update ist die Kükenkugelbahn. Wir machen ein Schweinegeld!“
„Und ein Puzzle“, prustet Julia, „Brathähnchenpuzzle, sau- schwer, nur wenige Teile, aber sauschwer. Das müssen die erst mal rauskriegen, wie die zusammenpassen, die kleinen Köp­fe und die Riesenschenkel und die verdrehten Beine...“
Die ganze Welt im Zeigefinger – das ist der Zauber des Internet. Und es ist mehr als die Welt ist in diesem Zeigefinger: Ein Mausklick und aus dem Animations- wird ein Horrorfilm. Ein riesiger Laster gleitet vorbei. Aus schmalen, waagerechten Schlitzen quiekt und schreit es. Schweineohren und -nasen sind in die Schlitze gequetscht. In drei Lagen stehen sie übereinander. Bevor Florian kapiert, wo er gelandet ist, schreit er:

"Stapelschweine! Die Bauklötze für das moderne Kleinkind!"

Dann erstarrt er. Julia würgt. Micha dreht sich um und stürzt durch die grünen Vorhänge hinaus auf den Balkon.

 

Die Tierschutz-Transport-Verordnung der Europäischen Union verlangt: einem Mastschwein von 100 kg muss mindestens eine Fläche von einem halben Quadratmeter zur Verfügung stehen. Bis zu 15 Mastschweine dürfen jeweils in einer Box sein. Vorausgesetzt sie haben in dieser Box Zugang zu Wasser dürfen sie so maximal 24 Stunden in drei Etagen übereinander zum Schlachthof transportiert werden.

 

Julia geht auf den Balkon zu Micha. Kurz darauf kommt Florian auch. Sie stehen noch eine Weile wortlos herum. Von Schweinebauklötzen, Schweinegeld durch Kükenkugelbahn und einem sauschweren Brathähnchenpuzzle reden sie nicht mehr.